Die Kolonialisierung der Öffentlichkeiten (Teil I)

Der Soziologe Niklas Luhmann ging davon aus, dass alles, „was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ Er war auch überzeugt, Massenmedien zeichnen sich dadurch aus, „dass keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfängern stattfinden kann.“

In der Tat: Wir leben in einer Mediengesellschaft. Wie beispielsweise die soziale Wirklichkeit in diesem Land aussieht, erkennen wir vor allem durch Zeitung, Radio und Fernsehen. Auch politische Debatten sind in erster Linie über die Massenmedien vermittelt; eine „öffentliche Meinung“ kann ohne die Medien weder dargestellt noch beeinflusst werden.

Dennoch sind die Annahmen Luhmanns heute grundlegend in Frage gestellt. Denn mit dem Internet verändert sich unser Verständnis, welche gesellschaftlichen Funktionen Medien haben und damit zugleich, was wir unter „öffentlicher Sphäre“ verstehen.

Mehr noch: Unser Verständnis von „Öffentlichkeit“ wird geradezu umgekehrt. Denn durch das Internet haben die Medien mehr als je zuvor das Potential nicht nur Medien für Massen, sondern Medien der Massen zu werden.

Diese Entwicklung wirft völlig neue Fragen auf: Fördert das Internet demokratische Impulse und Bewegungen – Stichwort: Iran? Oder hat das Internet vorwiegend negative Auswirkungen auf uns und unsere Gesellschaft: Droht es die Printmedien auszubluten und sind wir auf dem besten Weg, durch Google und Wikipedia zu verdummen?

Ein Blick auf die Geschichte der „Öffentlichkeit“ lässt erahnen, welche fundamentalen Veränderungen das Internet mit sich bringt. Denn diese Geschichte ist zugleich eine Abfolge medialer Umbrüche. Diese Veränderungen sind in der Vergangenheit vor allem auch immer eins gewesen: ein Versprechen auf die Demokratisierung der öffentlichen Sphäre.

Tatsächlich sind historische Entwicklungen wie beispielsweise die Reformation, die Französische Revolution und die europäische Aufklärung ohne die Vermittlung durch Medien gar nicht vorstellbar. Auch unsere heutige bundesrepublikanische Demokratie ist auf die integrierende und im besten Fall aufklärende Funktionen der Medien nicht notwendig angewiesen.

Dennoch wohnt der Entwicklung der Massenmedien zugleich eine Ambivalenz inne. Denn das Versprechen auf eine Demokratisierung hat sich rückblickend bisweilen auch in eine ernstzunehmende Bedrohung der öffentlichen Sphäre gewandelt. Mit anderen Worten: Die Massenmedien haben auch zu Phasen der Regression gesellschaftlicher Öffentlichkeit geführt.

Konkret vollzieht sich dieser Prozess in einem Dreischritt der „Kolonialisierung“: Einer kommerziellen oder administrativen Enteignung folgt die Entpolitisierung und im Anschluss die Entdemokratisierung des öffentlichen Raums.

Kolonialisierung bedeutet hier, dass öffentliche Kommunikationssphären und ihre Medien durch von außen eintretende Interessen und Zwänge gestört und in ihren Funktionen nachhaltig beeinträchtigt werden.

Der gegenwärtige Medienwandel durch das Internet könnte allerdings einen Ausweg aus dieser Entwicklung aufzeigen. Die Frage, die über diesem Vortrag steht, lautet daher: Stellt das Internet bestimmte Voraussetzungen bereit, eine umfassende Politisierung und Demokratisierung der Öffentlichkeit herbeizuführen – ohne in die Sackgasse der Kolonialisierung durch kommerzielle und administrative Interessen zu geraten?

Der Strukturwandel der Öffentlichkeit

Unter politischer Öffentlichkeit verstehen wir unter anderem zweierlei: zum einen die allgemeine Zugänglichkeit von Themen, Kenntnissen, Meinungen usw.; zum anderen eine bestimmte Formation der Gesellschaft, in der sich Meinungen bilden, die dann eine eigenständige politische Wirkung entfalten.

Dies gesellschaftlichen und politischen Wurzeln moderner Öffentlichkeit untersuchte Jürgen Habermas bereits in den frühen 60er Jahren in seinem Standardwerk „Der Strukturwandel der Öffentlichkeit“. Er ging der Frage nach, unter welchen Bedingungen sich in Frankreich, England und Deutschland eine „bürgerliche Öffentlichkeit“ herausbilden konnte. Auf diesem Wege gelangt er schließlich auch zu einem normativen Verständnis von politischer Öffentlichkeit, das gerade mit Blick auf das noch junge Medium Internet neue Aktualität erhält.

Voraussetzung für die Ausbildung einer politisierten bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert waren ein liberalisierter Markt und die freie Verfügung der Privatleute über ihr Eigentum. Die aufkommende Öffentlichkeit diente dazu, die Interessen der Bürger zu finden, zu formulieren und gegenüber dem Staat zu vertreten.

Mit der Entwicklung der frühkapitalistischen Verkehrswirtschaft und der Ausbreitung marktwirtschaftlicher Beziehungen bildeten sich nationalen Machtstaaten heraus – und im Zuge dessen eine „vom Staat sich trennende Gesellschaft.“

Zu dieser Entwicklung haben nicht zuletzt periodische Printmedien beigetragen, die sich zu dieser Zeit schnell verbreiten. Auch Bücher befördern den Wandel hin zu belehrender Unterhaltung und der Aneignung praktischen Wissens. In diesem Umfeld konnte sich eine neue gesellschaftliche Gruppe konstituieren: das Bürgertum.

Nach und nach bildete sich im Laufe des ausgehenden 18. Jahrhunderts aus der Mitte der Tischgesellschaften, Salons, Kaffeehäuser und Vereinigungen eine politisierte Sphäre des Sozialen und mit ihr eine frühbürgerliche politische Öffentlichkeit heraus. In ihr vertreten die Bürger zunehmend den Anspruch, staatliche Gewalt zu kontrollieren und sie nach ihren Vorstellungen zu beeinflussen. Kurz: Das Publikum verlangte öffentlich nach der Legitimation der staatlichen Gewalt.

Der Idealtypus bürgerlicher Öffentlichkeit

Das räsonierende Publikum bedient sich – durchaus im Sinne Kants – öffentlich der eigenen Vernunft – es übte sich im Selbst- und Lautdenken. Vor diesem Hintergrund kann die bürgerliche Öffentlichkeit dieser Zeit ohne Zweifel als ein Produkt der Aufklärung verstanden werden.

Jürgen Habermas erkennt in den Kommunikationsbedingungen der frühen bürgerlichen Öffentlichkeit sogar idealtypische Voraussetzungen einer „diskursive Meinungs- und Willensbildung“ von Staatsbürgern.

Dieser Idealtypus öffentlicher Deliberation erfüllt Habermas zufolge drei Bedingungen:
1. Der Zugang zum öffentlichen Gespräch steht allen gesellschaftlichen Gruppen offen,
2. in den herrschaftsfreien Diskursen gilt vor allem die Kraft des besseren Arguments und
3. der – thematisch unabgeschlossene – Meinungsaustausch der Bürger untereinander nimmt auf die politischen Entscheidungsträger Einfluss.

Der Zerfall der „bürgerlichen Öffentlichkeit“

Nur für kurze Zeit bestimmen diese Kriterien jedoch die „herrschaftsfreie Kommunikation“ der bürgerlichen Öffentlichkeit. Zwei Tendenzen, die administrative und die kommerzielle Kolonialisierung, sind maßgeblich verantwortlich dafür, dass stattdessen ein „Strukturwandel bürgerlicher Öffentlichkeit“ einsetzt.

1.) Zum einen basiert das Modell der bürgerlichen Öffentlichkeit auf der strikten Trennung der öffentlichen und privaten Sphäre. Allerdings muss der Staat, um gesellschaftliche Antagonismen zu entschärfen, zunehmend in den bis dahin privat organisierten Warenverkehr und die Domäne gesellschaftlicher Arbeit eingreifen sowie nicht zuletzt kollektive Daseinsfürsorge betreiben.

Dies hat Folgen für die politische Öffentlichkeit, da die Gesellschaft fortschreitend verstaatlicht und der Staat zunehmend vergesellschaftet wird. Die private Sphäre, als Voraussetzung der bürgerlichen Öffentlichkeit und mit ihr die bürgerliche Öffentlichkeit selbst verlieren ihren unabhängigen Status.

Staatliche und gesellschaftlich Einrichtungen lassen sich nicht länger entlang der Kriterien des Öffentlichen und Privaten klar unterscheiden, da diese Barriere im Zuge dieser administrativen Kolonialisierung der Privatsphäre zunehmend verschwindet.

2.) Entscheidender ist allerdings, dass sich das Pressewesen wandelt. Ursprünglich gingen die Zeitungen aus den privaten Korrespondenzen der Privatleute hervor. Handwerklichen Kleinbetriebe fassten dann Informationen zusammen und verkauften diese an Kaufleute, vermehrt auch an das sich ausbildende Publikum. Zu Beginn förderten die Medien auf diese Weise die öffentliche Verständigung der Privatleute untereinander.

Mehr und mehr jedoch steht bei den Medienbetrieben der erwerbswirtschaftliche Zweck im Vordergrund. Die Folge dieser expansiven kommerziellen Kolonialisierung der Öffentlichkeit: Kritische Publizität wird zunehmend durch manipulative Meinungspflege und Werbung aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt. Fortan zählen weniger die Resultate eines rational diskutierenden Publikums als vielmehr die Absatzstrategie der Presserzeugnisse.

Diese doppelte Kolonialisierung bedroht die bürgerliche Öffentlichkeit in Gänze: Diese steht jener Okkupation weitgehend ungeschützt gegenüber und droht ihre politische Kommunikationsform zu verlieren. Die Presse vermittelt nicht mehr bloß das „Räsonnement der zum Publikum versammelten Privatleute“ – dieses wird „nun umgekehrt durch die Massenmedien erst geprägt.“

Mit anderen Worten: Die zunehmende Kommerzialisierung legt den Grundstein für die Massenkultur der Moderne – und drängt zugleich die idealen Kommunikationsbedingungen der frühbürgerlichen Öffentlichkeit ins Abseits. Damit setzt schließlich ein Strukturwandel der bürgerlichen Öffentlichkeit ein: Das Publikum wandelt sich von einem kulturräsonnierenden zu einem mehr und mehr kulturkonsumierenden Publikum. In Folge geht, so Habermas, der Zusammenhang einer räsonierenden frühbürgerlichen Öffentlichkeit verloren.


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