Mario Sixtus mahnt zu Wachsamkeit: Kritik an Google Street View komme einem Angriff auf die Grundrechte jedes Einzelnen gleich. Google Street View mache den öffentlichen Raum erst wirklich öffentlich. Dem Geschwätz von „Phobikern“ sei daher keine Beachtung zu schenken.
Der IT-Berater Jens Best münzt diese Weisung kurzerhand in praktisches Handeln um. Mit einer PR-Aktion in eigener Sache hat er sich geschickt in die Debatte um Street View eingeschaltet: Er will die „freie Zugänglichkeit“ des „digitalen öffentlichen Raums“ mit der Kamera in der Hand verteidigen. Wenn es sein müsse, tönt er, sei er sogar „bereit, ins Gefängnis zu gehen.“
Dem kühnen Aufrührer springt schließlich Michael Seemann zur Seite: Der Kritik an Google begegnet er mit digitalem Darwinismus: „Der Sprung ins kalte Wasser wird niemandem erspart bleiben, so oder so. […] Willkommen in unserer Welt.“
Was veranlasst diese Riege wackerer „Netzaktivisten“, den neuen Google-Dienst nicht nur willkommen zu heißen, sondern ihn zudem mit martialischer Rhetorik und couragiertem Einsatz gegen Kritik zu verteidigen?
Zum einen unterliegen sie offenbar einem falschen Eindruck davon, was Googles Geschäft im Kern ausmacht. Der Konzern verdient sein Geld in erster Linie mit den persönlichen Daten der Nutzer. Auch Street View wird dazu beitragen, mehr und mehr Informationen über uns zu gewinnen, die das Unternehmen dann zu zunehmend komplexen Profilen zusammenführen kann.
Zum anderen verteidigen Sixtus und Co. etwas, das so überhaupt nicht existiert. Die Befürworter von Street View gehen davon aus, dass Google mit Hilfe des neuen Dienstes nicht weniger als eine „digitale Öffentlichkeit“ der Allgemeinheit verfügbar mache. Das genaue Gegenteil ist indes der Fall: Google eignet sich nun auch noch in einem bislang nicht gekannten Ausmaß unsere Öffentlichkeit an. Diese wird dabei nicht nur kommerzialisiert – die öffentliche Sphäre wird von den ökonomischen Interessen Googles geradezu durchdrungen und so am Ende selbst zur Ware.
Auf diese Weise gehen dem öffentlichen Raum zahlreiche Kriterien verloren, die ihn zuvor als solchen kennzeichneten:
Erstens dient „öffentlich“ als Gegenbegriff zu „privat“. Der private Raum bezeichnet eine Handlungssphäre, in der die Gesellschaftsmitglieder persönliche Ziele und Lebensprojekte verfolgen können, ohne sich kollektiven Ansprüchen unterwerfen oder sich gegenüber der Gesellschaft für ihre Handeln rechtfertigen zu müssen.
Zweitens lässt sich „öffentlich“ als Gegenbegriff zu geheim oder vertraulich verstehen. Somit sind beispielsweise Wissensbestände, die abgeschirmt sind gegen Beobachtung aber auch gegen den Einfluss von Außen, aufgrund eingeschränkter Zugangsbedingungen nicht öffentlich. Oders anders gesagt: Öffentlich beschreibt auch und vor allem die kollektive Verfügung über Ressourcen, Stichwort: öffentliches Eigentum.
Drittens verweist „Öffentlichkeit“ auf ein Kollektiv mit einer Kommunikationsstruktur, und damit auf eine bestimmte Formation der Gesellschaft, in der sich Meinungen bilden, die dann eine eigenständige politische Wirkung entfalten können.
Knapp zusammengefasst lässt sich also sagen, dass in einer demokratischen Öffentlichkeit die Bürger miteinander verhandeln, wie ihr gemeinsamer Raum und seine Infrastruktur ausgestaltet sein soll. Damit obliegt es ihnen auch zu bestimmen, wo die Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre verläuft.
Offensichtlich nehmen zahlreiche Bürger das Fotografieren „ihrer“ Straßen und Hausfassaden als Eingriff in die Sphäre wahr, die ihnen eigentlich Schutz vor dem unerwünschten Eindringen kollektiver oder fremder privater Ansprüche gewähren soll. Bereits die Wahrnehmung, dass Google als privat-wirtschaftlicher Akteur systematisch in das Private einzudringen scheint, sollte demnach eigentlich ausreichen, den Grenzverlauf zwischen öffentlicher und privater Sphäre ernsthaft zu prüfen und möglicherweise anzupassen – statt die Kritiker des Dienstes, wie Sixtus es tut, als Phobiker zu beschimpfen.
Und selbst wenn die Befürworter des Dienstes Recht behalten sollten, dass Google allein den öffentlichen Raum fotografiert habe, so verfolgt auch Street View in erster Linie das Ziel, mit einem aufgemotzten Stadtplan den Privatpersonen weitere private bis intime Informationen zu entlocken, die Google dann zu Werbezwecken verwertet. Über die weitergegebenen Informationen verlieren die Nutzer jedoch nicht nur vollständig die Kontrolle, sie werden regelrecht ihrer privaten Daten enteignet.
Google Street View hat somit – auf die eine oder andere Weise – durchaus Einfluss auf unseren privaten Raum. Entscheidend für die aktuelle Debatte ist jedoch, dass nach der langjährigen Kommerzialisierung der privaten Daten nun auch die zunehmende Aneignung des Öffentlichen folgt.
Denn das virtuelle Abbild der „Öffentlichkeit“ verfolgt eben nicht den Zweck, demokratische Entscheidungen herbeizuführen und kollektive Verantwortlichkeiten zu organisieren. Auch bedürfen die Entscheidungen und Handlungen Googles keinerlei demokratischer Legimitation, der Konzern unterliegt nicht einmal der Notwendigkeit sich gegenüber der Öffentlichkeit rechtfertigen zu müssen. Somit verfügen die Nutzer über keinen entscheidenden Einfluss auf die Unternehmenspolitik Googles – und damit auch nicht auf die „digitale Öffentlichkeit“.
Wie könnten wir verhindern, dass Google – was noch am wahrscheinlichste ist – die „öffentlichen“ Daten von Street View mit denen anderer Diensten verknüpft? – Wir wissen ja nicht einmal, welche Daten Google überhaupt erhebt und in seinem Besitz hat. Wie kann sicher gestellt werden, dass die Informationen, die Google besitzt, nicht gestohlen oder an andere Unternehmen verkauft werden? Oder was können wir dagegen unternehmen, wenn Google morgen entschiede, dass fortan nur noch eine bestimmte Nutzergruppe kostenfreien Zutritt zu Street View erhält?
Das Gegenteil von öffentlichem Gemeingut, über das alle betroffenen Bürger gleichermaßen demokratisch verfügen und Macht ausüben können, heißt jedoch: Privateigentum. Und der Global Player Google will uns dieses Privateigentum obendrein als öffentlichen Service verkaufen.
Damit aber verwandelt sich der demokratische Souverän bei Street View in passive Konsumenten; das in der öffentlichen Sphäre demokratisch legitimierte Recht schrumpft auf die von Google einseitig diktierten Allgemeinen Geschäftsbedingungen zusammen. Daher kann diese Form der „digitalen Öffentlichkeit“ schließlich ebenfalls nicht dem freien gemeinsamen Austausch der Bürger untereinander zugute kommen.
Die „digitale Öffentlichkeit“ von Google Street View erfüllt daher in keiner Weise den Charakter einer demokratischen Öffentlichkeit. Stattdessen verwandelt Google diese in ein kommerzielles Produkt. Das Unternehmen ist zur Sicherung eigener Vertriebswege inzwischen auch bestrebt, die Netzneutralität, eine Grundbedingung des unbeschränkten Datenverkehrs im Internet, auszuhebeln.
Wir sehen uns somit derzeit einer Entwicklung gegenüber, in der eine kommerzielle Kolonialisierung des Internet – auch und vor allem durch Google – nicht nur unser Verständnis von Öffentlichkeit, sondern obendrein auch noch die offene Vernetzungsstruktur des Internet bedroht. Was aber braucht es noch, um den Wohltäter vom Übeltäter unterscheiden zu können?
Der Text erschien auch auf Carta.info.
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