WarTok: Der Krieg in den sozialen Medien

Der Sieger schreibt die Geschichte. Diese Lebensweisheit scheint der Ukraine-Krieg derzeit zu widerlegen. Denn dieser Krieg wird nicht nur zu Lande und in der Luft, sondern auch im Internet geführt – und gerade dort erweist sich die ukrainische Seite als überaus gut gerüstet. Geschickt nutzt sie Videoplattformen wie TikTok, Instagram und YouTube zu Propaganda- und PR-Zwecken. Mit Hilfe der sozialen Medien lenkt die Regierung in Kiew nicht nur unsere Wahrnehmung des Kriegsgeschehens, sondern setzt die Plattformen der Techkonzerne auch gezielt als Mittel der Kriegsführung ein.

Das zeigte sich gleich am ersten Tag nach der russischen Invasion, als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seinen Anzug kurzerhand gegen ein Armee-Outfit eintauschte. In Khakigrün hält er seitdem Pressekonferenzen, verschickt gemeinsam mit seinem Ministern Selfies oder filmt sich vor historischen Gebäuden in Kiew, um so Falschinformation über seine Flucht zu widerlegen. Auf diese Weise hat Selenskyj eine „kommunikative Realität“ geschaffen, auch dank derer er zum „globalen Helden“ aufstieg.[1]

Seine Landsleute tun es Selenskyj gleich. Zahllose Videos auf TikTok, Instagram und Twitter zeigen ukrainische Bauern, die mit ihren Traktoren russische Panzer abschleppen; Soldaten, die auf weiten Feldern Luftgitarre spielen, Familien, die unter freiem Himmel Molotowcocktails zusammenbauen. In einem Mosaik aus verwackelten Handyvideos präsentiert sich ein ganzes Land entschlossen im Widerstand gegen die Invasoren.

Die Bilder aus dem Kreml sprechen hingegen eine gänzlich andere Sprache: Sie zeigen Wladimir Putin, der am Kopfende bizarr langer Tafeln mit grimmig dreinblickenden Ministern die Lage berät, der giftige Fernsehansprachen hält und Oligarchen vor laufender Kamera die Zustimmung zu seinem Kriegskurs abpresst. Die Aufnahmen sollen vor allem eines vermitteln: die angeblich eiserne Stärke des Kremls. Diese anachronistische Propagandastrategie, die auch optisch an düstere Sowjetzeiten erinnert, überrascht zunächst. Denn der Kreml beherrscht die Methoden der Internetpropaganda durchaus: Zum einen setzt Putin seit Jahren seine berühmt-berüchtigte Troll-Armee (Kremleboty, zu Deutsch: „Kreml-Bots“) in diversen Informationskriegen ein. Sie verhalf mutmaßlich unter anderem den Brexiteers und Donald Trump zum Erfolg. Zum anderen hat nicht zuletzt Putin immer wieder bewiesen, dass er die Meme-Sprache des Netzes versteht, etwa wenn er sich volksnah auf der Judomatte oder betont männlich mit nacktem Oberkörper beim Reiten zeigte.

Dass der Kreml derzeit nicht zu einer ähnlichen Medienstrategie wie die Ukraine greift, hat zunächst einen militärpolitischen Grund: Die russische Armee führt in der Ukraine derzeit bekanntlich gar keinen Krieg, sondern nur eine „Sonderoperation“ durch, die obendrein überaus verlustreich ist.

Vor allem aber hat der Kreml offenbar den immensen Einfluss von Videos in diesem Krieg unterschätzt. Zwar flutete Putins Troll-Armee – wie zu erwarten war – Facebook und Twitter in den Tagen vor dem russischen Einmarsch mit Falschmeldungen und Hassrede.[2] Allerdings gingen diese rasch in einem Meer ukrainischer Videos unter. Denn überraschenderweise avancierte TikTok zu einer der wichtigsten Social-Media-Plattformen des Krieges: Allein in den Tagen rund um die Invasion stiegen hier die Aufrufe der mit #ukraine getaggten Videos von 6,4 auf 17,1 Mrd. steil an – das sind rund 1,3 Mrd. Aufrufe pro Tag oder knapp 930000 pro Minute.[3] Die schnell geschnittenen und oft mit eingängiger Popmusik unterlegten Videos unterscheiden sich im Stil meist nicht allzu sehr von den bisher auf der Plattform geteilten Filmclips – nur dass sie buchstäblich über Nacht einen überaus ernsten Hintergrund und damit auch politischen Einfluss erhalten haben.

Krieg als Content

Dass ausgerechnet TikTok zur wichtigsten Waffe des Informationskriegs wurde, hat zwei wesentliche Ursachen: Die Smartphone-App ist zum einen einfach zu benutzen. Mit ihrer Hilfe kann man jederzeit und überall Videos in hoher Qualität erzeugen und rasend schnell verbreiten. „Wenn Facebook aufgebläht ist, Instagram kuratiert ist und YouTube eine Unmenge an Ausrüstung und Bearbeitungszeit erfordert, ist TikTok schnell und schmutzig“, schreibt der US-Journalist Chris Stokel-Walker.[4]

Zum anderen verändert die Art der Filme die Wahrnehmung des Gezeigten: Anders als etwa bei klassischen Medien, die das Kriegsgeschehen in der Regel aus größerer Distanz zeigen, einordnen und kommentieren, katapultieren die verwackelten Nahaufnahmen aus der Ich-Perspektive den Betrachter geradezu unmittelbar ins Kriegsgeschehen hinein.

Der massive Einsatz von „WarTok“, wie die Videoplattform inzwischen auch genannt wird, markiert damit eine Zäsur in der modernen Kriegsberichterstattung. Deren Anfänge reichen bis zum Spanischen Bürgerkrieg der 1930er Jahre zurück. Damals dokumentieren, so beschrieb es die Publizistin Susan Sontag, erstmals Berufsreporter mit der Leica-Kamera das Morden auf dem Schlachtfeld. Rund drei Jahrzehnte später gerät das „Gemetzel“ des Vietnamkrieges dank des Fernsehens „zu einem routinemäßigen Teil […] der häuslichen Unterhaltung“.[5] Die Terroranschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 in New York werden dann live in alle Welt ausgestrahlt. Im Ukraine-Krieg kulminieren all diese Entwicklungen: Unzählige Videofragmente flackern ungefiltert und oft auch in Echtzeit über die Bildschirme unserer Smartphones – und setzen uns so unmittelbarer denn je den brutalen Schrecken des Krieges aus.

Diese Filme können zwar eine relevante Informationsquelle über das Kriegsgeschehen sein. So hat etwa die „Washington Post“ mit Hilfe von TikTok-Videos russische Truppenbewegungen verfolgt.[6] Doch die vermeintliche Authentizität der Videoaufnahmen führt allzu oft auch in die Irre.

Seit Jahren ist bekannt, dass sich Fake News in sozialen Medien bis zu sechs Mal schneller verbreiten als seriöse Informationen, vor allem wenn sie starke Reaktionen wie Empörung auslösen. Videos sind für diese Emotionalisierung besonders gut geeignet. Sie werden daher auch häufiger als etwa Textnachrichten weitergereicht, ohne dass die Nutzer zuvor prüfen, ob die darin vermittelten Information wahr sind oder nicht.

Auch aus diesem Grund wurde in den ersten Kriegswochen hunderttausendfach ein Videoclip mit dem Titel „Geist von Kiew“ geteilt, der angeblich einen ukrainischen Kampfpiloten beim Abschuss russischer Jets zeigt. Wie sich später herausstellte, stammte der Film tatsächlich aus dem Videospiel „D.C.S. World“, dessen körnige, verwackelte Grafik leicht mit echtem Filmmaterial verwechselt werden kann.[7] Ein anderes Video, das weltweit viral ging, zeigt angeblich eine junge Ukrainerin, die erklärt, wie man einen vermeintlich verlassenen russischen Panzer fährt. Mehrere Millionen Mal wurde das Video angeklickt. In Wahrheit ist die Frau Russin und das Video mehrere Jahre alt. Und ein weiterer Clip zeigte nicht, wie vielfach behauptet, einen militärischen Angriff auf ein Kraftwerk, sondern nur einen Blitzeinschlag.

Einige Nutzer erstellen derartige Videos auch gezielt, um Aufmerksamkeit und damit Likes zu generieren. Solche Clips zeigen beispielsweise Alltagssituationen, die vermeintlich durch Schüsse unterbrochen werden. Tatsächlich aber werden die Aufnahmen zuvor bewusst mit Schusslauten abgemischt. Trickbetrüger haben es hingegen weniger auf Likes als vielmehr auf das Geld ihrer Follower abgesehen: Mit vermeintlichen Liveübertragungen aus der Kriegszone, die sie mit Detonationsgeräuschen, Alarmsirenen und Menschenschreien unterlegen, bitten sie ihre Follower um Spenden.

Dessen ungeachtet ist die Begeisterung über die Rolle der sozialen Plattformen im Ukraine-Krieg allenthalben groß. „Im Jahr 2022 ist Information Macht. Und eine der vielen großen unerwarteten geopolitischen Verschiebungen der vergangenen Woche ist, dass diese Macht an das Volk zurückgegeben wurde“, feiert stellvertretend für viele der britische „Guardian“ die neue Form der Kriegsführung: „Inzwischen befehligt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht nur seine Streitkräfte, sondern auch TikTok, Instagram, Twitter und Telegram. Er ist […] der erste hybride Anführer einer hybriden Kriegsführung.“[8]

Techkonzerne: PR zum Nulltarif?

Kein Zweifel: Das schnelle und entschiedene Vorgehen der Techkonzerne ermöglichte es erst, dass pro-ukrainische Stimmen auf Twitter, Instagram, Facebook und TikTok die russische Desinformation übertönen konnten. Apple verbannte die Angebote kremlnaher Propagandasender wie „Russia Today“ aus seinem App Store; Facebook und Instagram blockieren russische Konten, die Desinformationen verbreiten. YouTube löschte zigtausende Videos mit Fake News und russischer Propaganda; die meisten der Plattformen stellten zudem den Verkauf von Werbung in Russland ein. Auf TikTok können russische Nutzer nicht mehr live streamen oder neue Inhalte hochladen; zudem hat TikTok in Russland alle ausländischen Konten blockiert.

Aber handeln die Konzerne mit diesen Maßnahmen nun tatsächlich, wie oft behauptet, in mutiger Weise demokratisch und aufklärerisch?

Zunächst einmal müssen die Unternehmen durch ihre Boykottmaßnahmen keine allzu großen Nachteile in Kauf nehmen: Die meisten von ihnen machen nur vergleichsweise geringen Umsatz in Russland, einige von ihnen verfügen dort nicht einmal über Niederlassungen. Aus diesem Grund fiel es den Konzernen vermutlich auch leicht, der Bitte der ukrainischen Regierung nach derart umfangreichen Sperrungen nachzukommen. In den ersten Kriegstagen hatte Kiew deren Geschäftsführer öffentlichkeitswirksam zu Boykott- und Sanktionsmaßnahmen gegen Russland aufgerufen. Mit durchschlagendem Erfolg: „Kein Prominenter, geschweige denn eine Nation, war jemals effektiver darin als die Ukraine, Unternehmen zu beschämen, damit sie moralisch handeln“, sagt Peter Singer vom Center on the Future of War Institute an der Arizona State University. „Wenn es so etwas wie eine ‚cancel culture‘ gibt, dann können die Ukrainer behaupten, sie im Krieg verfeinert zu haben.“[9]

Das eigentliche Problem besteht jedoch darin, dass die Techkonzerne ihre Monopolstrukturen erstmals im größeren Umfang als Kriegsmittel einsetzen. Die einschneidenden Maßnahmen sind zudem, obwohl sie entscheidenden Einfluss auf das Kriegsgeschehen haben können, in keiner Weise demokratisch legitimiert. Damit erweisen sich die Konzerne einmal mehr als eigenmächtig agierende supranationale Institutionen jenseits politischer Kontrolle.[10]

Ihre gegenüber Russland zur Schau gestellte Macht ist gewaltig: Die Konzerne haben eindrucksvoll gezeigt, dass sie einen großen Wirtschaftsraum effektiv sanktionieren können. Und sie scheuen nicht davor zurück, dafür politische Ziele ins Feld zu führen.

Auch wenn diese Ziele in diesem Fall darin bestehen, eine brutale Invasion zu stoppen und Leben zu retten, so ist doch nur zu hoffen, dass diese Form der digitalen Kriegsführung mit Hilfe des Silicon Valley nicht Schule macht – zumal deren Erfolg überaus fragwürdig ist. Denn Sanktionsmaßnahmen der Konzerne machten es Putin allzu leicht, den Zugang zu Facebook, Instagram und Twitter in Russland komplett zu sperren und den Meta-Konzern als „extremistische Organisation“ verbieten zu lassen. Russische Bürgerinnen und Bürger können sich nun nicht mehr über deren Kanäle – und damit an der russischen Staatspropaganda vorbei – informieren. Und auch wir erhalten so weniger Informationen aus der russischen Zivilgesellschaft und über die Antikriegsproteste.

Nur wenige Tage nach Kriegsbeginn hatte die Duma bereits ein Zensurgesetz verabschiedet, wonach Journalisten und anderen Personen bis zu 15 Jahre Gefängnis drohen, wenn sie „Fehlinformationen“ über die „Sicherheitsoperation“ in der Ukraine veröffentlichen.[11] Fast zeitgleich verbot der Kreml den unabhängigen Radiosender „Echo Moskwy“ und den Fernsehsender „Doschd“.

Sogar in der Ukraine könnten die Techkonzerne einen hochgefährlichen Backlash befördern. Wegen des Krieges lockerten Facebook und Instagram dort die Moderationsregeln: Bis auf weiteres dürfen die Nutzer uneingeschränkt zu Gewalt an russischen Soldaten aufrufen und das ukrainische Asow-Regiment lobpreisen, das als ultranationalistisch und rechtsextrem gilt.[12]

All das zeigt: Die Geschichte im Ukraine-Krieg wird weder von Siegern noch von Verlierern geschrieben – sondern vor allem von denen, die über Zugang zu den Informationskanälen der sozialen Medien verfügen. Selenskyj hat dies frühzeitig erkannt und liefert ein Meisterstück der strategischen Kommunikation ab. Indem er dafür aber die mächtigen Technologiekonzerne als Verbündete gewonnen hat, könnte er der Demokratie noch einen Bärendienst erwiesen haben.

[1] Vgl. Die Propagandaschlacht auf Social Media, Christian Stöcker im Gespräch, www.deutschlandfunk.de, 28.2.2022.

[2] Vgl. War via TikTok: Russia’s new tool for propaganda machine, www.cbsnews.com, 26.2.2022.

[3] Vgl. Chris Stokel-Walker, TikTok Was Designed for War, www.wired.com, 1.3.2022.

[4] Ebd.

[5] Susan Sontag, Regarding the Pain of Others , London 2003, S. 21.

[6] Vgl. Paul Sonne et al, The TikTok buildup: Videos reveal Russian forces closing in on Ukraine, www.washingtonpost.com, 11.2.2022.

[7] Vgl. Kyle Chayka, Watching the World’s „First TikTok War“, www.newyorker.com, 3.3.2022.

[8] Carole Cadwalladr, Social media turn on Putin, the past master, www.theguardian.com, 6.3.2022.

[9] Gesteuert wird die Kampagne vom ukrainischen Minister für digitale Transformation, Mychajlo Fedorow. Vgl. Adam Satariano, Shaming Apple and Texting Musk, a Ukraine Minister Uses Novel War Tactics, www.nytimes.com, 12.3.2022.

[10] Vgl. dazu insbesondere auch das „Engagement“ von Elon Musk: Christian Hensen, Starlink als strategisches Werkzeug: So helfen Elon Musks Satelliten beim Angriff auf russische Panzer, www.stern.de, 22.3.2022.

[11] Vgl. Adam Satariano and Valerie Hopkins, Russia, Blocked From the Global Internet, Plunges Into Digital Isolation, 7.3.2022, www.nytimes.com.

[12] Vgl. Facebook and Instagram let users call for death to Russian soldiers over Ukraine, www.theguardian.com, 11.3.2022.

Aus: »Blätter« 4/2022, S. 9-12


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